Diabetes und Pubertät – Wenn Jugendliche gegen ihre Krankheit rebellieren

Diabetes und Pubertät - Wenn Jugendliche gegen ihre Krankheit rebellieren und alles aus dem Ruder läuft.

Die Diagnose Typ-1-Diabetes von Steffis Tochter Sarah hat das Leben der Familie ganz schön auf den Kopf gestellt. Sarah war neun Jahre alt, als die Familie von der Diagnose erfuhr. Es war ein Schock, aber Sarah managte ihre Krankheit gut. „Sie war super konsequent, diszipliniert und akribisch mit allem“, erinnert sich Steffi. Doch dann kam die Pubertät.

„Plötzlich lief alles aus dem Ruder“, erzählt die 53-jährige Mutter. Sarah wollte wie die anderen Jugendlichen sein, nicht auf das Eis verzichten, nicht auf ihre Blutzuckerwerte achten. „Das war ein krasser Bruch. Plötzlich war ihr die Krankheit völlig egal“, sagt ihre Mutter. Die Folge: Ihre Werte verschlechterten sich massiv.

Für den Schorndorfer Kinderarzt Dr. Ralf Brügel ist dieses Verhalten nicht untypisch für den Umgang mit chronischen Erkrankungen im Teenageralter. „Die Pubertät ist ja bekanntermaßen eine Phase, in der Jugendliche versuchen ihren eigenen Weg zu finden, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln und oft auch in eine Abgrenzung zu ihren Eltern gehen. Dazu gehört auch das Pubertieren mit der eigenen Erkrankung. Der letzte Punkt kann dabei so wichtig sein, dass es zu einer Art Selbstbeschädigung führt. Dass Jugendliche eventuell in Kauf nehmen, dass ihr Gesundheitszustand leidet, sie ihrem Körper schaden, nur weil sie den Eltern zeigen müssen, dass sie nicht so akribisch spritzen oder Medikamente einnehmen, wie das die Eltern lange vorgelebt und eingefordert haben“, erzählt der Kinder- und Jugendmediziner und dreifache Familienvater.

Eltern haben keine Kontrolle mehr

Bei einer Erkrankung wie Typ-1-Diabetes kann das jedoch lebensgefährlich werden. „Unsere Tochter war den ganzen Tag in der Schule und unterwegs. Wir waren in ihren Alltag nicht mehr so involviert, hatten keine Kontrolle mehr. Sie hatte zwar eine Insulinpumpe und wir konnten über die App ihre Werte tracken, aber es war eine große Herausforderung, weil Sarah sich von uns ungern reinreden ließ“, erinnert sich Steffi.

Auch die Mahnungen der Ärztinnen und Ärzte wurden nicht gehört. Sarahs HbA1c-Wert, der Blutzuckerlangzeitwert, wurde immer schlechter. „Unser betreuender Arzt im Krankenhaus hat versucht, Sarah aus der Reserve zu locken, ihr die gefährliche Lage näherzubringen und hat auch schon mal mit einem Krankenhausaufenthalt gedroht“, erzählt ihre Mutter. Sie erinnert sich an Situationen, in denen Sarah nach dem Arzttermin „heulend im Parkhaus stand“.

Alkohol kann zu schweren Unterzuckerungen führen

Dazu kommen weitere Herausforderungen wie Alkohol. Steffi erinnert sich an eine heftige Situation: „Einmal wurden wir abends von einem Freund von Sarah von einer Party aus angerufen. Er sagte uns, dass es Sarah nicht gut geht. Er wusste nicht, dass sie Diabetikerin ist. Mein Mann ist sofort losgefahren und hat Sarah abgeholt. Wir wussten nicht, ob ihr Zustand am Alkohol oder dem Diabetes lag. Ihr Blutzuckerwert war komplett im Keller.“

Alkohol senkt den Blutzucker und kann zu schweren Unterzuckerungen führen. Aber es wird sich nicht verhindern lassen, Teenagerinnen und Teenager komplett auf Alkohol verzichten zu lassen. Steffis Tochter Sarah hat später ihre eigene Strategie entwickelt. „Wenn sie irgendwo Alkohol trinkt, dann trinkt sie immer das Gleiche, damit sie weiß, wieviel Insulin sie benötigt. Denn gerade bei Mixgetränken variieren die Mischverhältnisse. Da kann man schnell die Kontrolle verlieren“, erzählt ihre Mutter.

Mittlerweile ist Sarah 20 Jahre alt und macht ein duales Studium zur Erzieherin. Sie ist eine verantwortungsbewusste Erwachsene geworden, ihre Werte sind wieder gut. Steffi und Sarah haben trotz aller Herausforderungen die Pubertät gut überstanden.

Was rät Steffi anderen Müttern, deren Kinder an Typ-1-Diabetes erkrankt sind? „Man muss die Kinder immer wieder für ihre Erkrankung sensibilisieren und ihr Bewusstsein wecken, aber auch keine Panik verbreiten. Zusätzlicher Stress und Druck sind kontraproduktiv. Dann fangen die Kinder erst recht an, zu rebellieren“, weiß Steffi.

Vertrauen in die Eltern-Kind Beziehung ist wichtig

Auch der Kinder- und Jugendarzt Brügel warnt davor, mit Starre und Härte vorzugehen. „Es ist hilfreich, sein Kind schon vor der Pubertät in seiner Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit zu fördern. Eltern müssen auch aushalten, dass nicht immer alles komplett rund und in ihrem Sinne laufen wird und lieber mal kleinere oppositionelle Aktionen hinnehmen“, so Brügel. Wichtig sei für ihn vor allem mit den Jugendlichen im Kontakt und authentisch zu bleiben, seine Sorgen ehrlich zu äußern und das „Ruder in ganz kleinen Schritten zu übergeben“. Auch das Vertrauen in die eigene Beziehung zum Kind ist für den Kinder- und Jugendarzt ganz entscheidend: „Eltern müssen daran glauben, dass die Wurzeln, die sie ihren Kindern in den zehn oder zwölf Jahren zuvor gegeben haben, halten und der Baum vielleicht ab und zu wackelt, aber zum einen nicht umfällt und zum anderen irgendwann wieder stabil steht und gut weiterwachsen kann.“ Bei Sarah und ihrer Familie hat das gut funktioniert.

Das Gespräch führte Tanja Reiners, reiners kommunikation, Stuttgart

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