Anja Renfordt war sechsmal Weltmeisterin im Kickboxen – und das mit einer Typ-1-Diabetes-Erkrankung. Sie war und ist bis heute für viele Betroffene ein großes Vorbild. Mir ihrer Disziplin, ihrem Optimismus und ihrer Stärke hat Anja vielen Menschen gezeigt, was alles mit einer chronischen Krankheit möglich ist. Bis heute ist sie Botschafterin für Diabetes, hält Vorträge, klärt auf und motiviert Menschen mit Diabetes ihren Weg mit der Krankheit zu finden und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die 42-Jährige arbeitet als Physiotherapeutin und lebt mit ihrer fünfjährigen Tochter und ihrem Lebensgefährten auf einem landwirtschaftlichen Hof in der Nähe von Lüdenscheid. Seit frühester Kindheit lebt sie mit Typ-1-Diabetes und ist dankbar über den technischen Fortschritt und dass sie aktiv Einfluss auf ihr Wohlbefinden nehmen kann. Angst kennt Anja nicht. Sie lebt im Hier und Jetzt mit ihrer Krankheit als stille Begleiterin und genießt ihr Leben.
Sugar Eves: Du hast mit fast zwei Jahren die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten. Das heißt, Du kennst gar kein Leben ohne Diabetes, richtig?
Anja: Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Ich bin damit groß geworden, für mich ist es ganz normal. Aber ich bin glücklich, dass sich die Behandlung und Technik so positiv entwickelt haben. Ich erinnere mich, dass ich mit 16 Jahren zum ersten Mal normalen Zucker essen durfte, vorher gab es immer nur Süßstoff. Zucker war ein Tabu. Auch die Messgeräte wurden mit den Jahren immer kleiner, man benötigte immer weniger Blut und auch die Insuline wurden schneller wirksam. Ich brauchte irgendwann keinen festen Ernährungsplan mehr. Mit dem medizinischen Fortschritt konnte ich mein Leben zunehmend freier und flexibler gestalten.
Sugar Eves: Wie sind Deine Eltern mit der Diagnose umgegangen?
Anja: Meine Eltern habe mich immer machen lassen und versucht, mir alles zu ermöglichen. Ich bin früher mit meinem Diätkuchen zum Kindergeburtstag gegangen, habe bei meiner Freundin mit Wage und Spritzen im Gepäck übernachtet und meine Eltern vor jeder Mahlzeit angerufen. Meine Mutter ist sogar als Begleitperson mit auf Klassenfahrt gegangen. Meine Eltern haben versucht, mir alles zu ermöglichen und immer nach Lösungen zu suchen.
Sugar Eves: Hatten Deine Eltern keine Angst?
Anja: Davon habe ich zumindest nichts mitbekommen, vielleicht haben sie ihre Angst auch einfach gut versteckt. Wenn man sich überlegt, dass es früher kein Blutzuckermessgerät gab, sondern das alles noch über Urinzuckermessungen lief, habe ich schon großen Respekt vor der Verantwortung meinen Eltern. Ich verstehe auch als Mutter betroffene Eltern, für die erstmal eine Welt zusammenbricht, wenn sie über die Diagnose Typ-1-Diabetes ihres Kindes erfahren.
Sugar Eves: Kennst Du die Ursache für Deinen Typ-1-Diabetes?
Anja: Ich hatte als kleines Kind eine bakterielle Hirnhautentzündung. Danach ist der Diabetes entstanden. Da bestand vermutlich ein Zusammenhang. Typ-1-Diabetes ist ja eine Autoimmunerkrankung, bei der der Körper die eigenen gesunden Zellen zerstört.
Sugar Eves: Wie sieht aktuell Dein technisches Equipment aus?
Anja: Ich bin nicht auf dem höchsten Level. Ich habe eine Insulinpumpe und einen CGM-Sensor. Die beiden Geräte sind aber nicht miteinander verbunden, aber ich komme damit sehr gut zurecht, weil ich mich schon immer selber darum gekümmert und dadurch viele Erfahrungswerte gesammelt habe.
Sugar Eves: Welche Rolle spielt der Diabetes in Deinem Alltag?
Anja: Ich schenke dem Diabetes gar nicht so viel Aufmerksamkeit. Der Diabetes ist die wichtigste Nebensache in meinem Alltag. Ich achte natürlich darauf, dass die Werte gut sind, lebe aber im Hier und Jetzt. Ich schaue mir selten Werte im Rückblick an. Das mache ich, wenn es nötig ist. Zum Beispiel bei anhaltenden Schwankungen oder zu hohen Werten. Wenn ich etwas Besonderes vorhabe, wie ein größeres Essen oder eine Geburtstagsfeier, dann schaue ich natürlich, dass ich den Wert optimal und vorausschauend planen kann.
Sugar Eves: Wie wichtig ist es trotz des wichtigen ärztlichen Rates, seinen eigenen Weg im Umgang mit der Erkrankung zu finden?
Anja: Das passiert automatisch im Alltag. Das sind ja keine Rückenschmerzen, die im Laufe des Tages wieder verschwinden. Der Arzt vermittelt nur das Fachwissen. Das ist wie in einer Fahrschule. Man lernt dort Autofahren, aber die Fahrpraxis kommt später durch die eigenen Erfahrungen. Jeder Tag ist anders, jede Uhrzeit auch. Man braucht immer eine andere Menge an Insulin, hat immer ganz individuelle Werte. Man sollte sich nicht blind an allem festhalten, was der Arzt sagt, sondern muss selber beobachten, an welchen Schrauben man drehen kann. Durch den jahrelangen Sport kenne ich meinen Körper besonders gut.
Sugar Eves: Du hast viele Jahre sehr erfolgreich Kickboxen als Leistungssport betrieben. Wie hat das mit dem Typ-1-Diabetes geklappt?
Anja: Bewegung ist natürlich immer gut – auch für den Diabetes. Aber wenn man sehr viel Sport macht, bringt man natürlich auch Unruhe in den Stoffwechsel. Da gibt es Situationen, bei denen der normale Diabetologe mit seinen Standardempfehlungen nicht mehr weiterhelfen kann. Ich habe mich da selber reingefuchst und kontrolliert, um den Diabetes mit dem Sport zu verbinden. Bei meinem Comeback hatte ich dann auch eine Pumpe, vorher habe ich jahrelang ohne trainiert. Da hatte ich dann häufiger mal stärkere Unterzuckerungen. Mit den modernen technischen Möglichkeiten konnte ich später meinen Insulinbedarf bei den Turnieren noch besser anpassen. Durch die Aufregung und den steigenden Adrenalinpegel bei Wettkämpfen steigt auch der Zuckerspiegel, da benötigt man dann auch mehr Insulin.
Sugar Eves: Was kann man vom Kickboxen für den Diabetes lernen?
Anja: Ich bin durch den Sport sehr strukturiert und diszipliniert. Ich weiß viel über Ernährung und habe ein sehr gutes Körpergefühl. Das hilft mir natürlich auch für meine Erkrankung. Ich kenne meine Blutzuckerwerte sehr gut und wusste bei Wettkämpfen früher immer ganz genau, wie hoch der Wert sein muss, damit ich alles aus meinem Körper rausholen und abliefern kann. Durch den Sport und den Diabetes hat man aber auch eine andere Frustrationstoleranz. Das ist mir vor allem in der Coronazeit aufgefallen. Ich konnte nicht verstehen, dass sich so viele über die Coronatests aufgeregt haben. Ich konnte damit viel besser umgehen und akzeptieren, dass man darauf keinen Einfluss hat.
Sugar Eves: Hast Du manchmal auch Angst vor einer Unterzuckerung?
Anja: Ich habe keine Panik, dass ich von jetzt auf gleich umkippe, auch nicht, wenn der Sensor mal piepst. Natürlich könnte das im Extremfall passieren, aber die Panik bringt nichts – ganz im Gegenteil. Auch meine Kolleginnen und Kollegen werden nicht gleich nervös, wenn sich der Sensor meldet. Ich kann es auch nicht leiden, wenn andere wegen meiner Erkrankung in Panik verfallen. Ich habe die Sacha ja selber im Blick. Bevor ich schlafen gehe, checke ich immer noch mal meine Werte. Dann kann man auch problemlos durchschlafen.
Für eine Unterzuckerung versuche ich immer gut vorbereitet zu sein und habe überall Traubenzucker, Saft oder Süßigkeiten parat. Der Körper benötigt dann schnell Energie. Die Symptome einer Unterzuckerung klingen aber meistens nicht so schnell ab, da läuft man dann Gefahr, dass man direkt zu viel isst. Bei Traubenzucker passiert das weniger, aber wenn man dann etwas anderes hat, was gut schmeckt …
Eine große Umstellung ist der Alltag mit Kind. Das ist eine echte Herausforderung. Da passiert es mir tatsächlich, dass ich gespritzt habe und dann nicht zum Essen komme oder andersherum, das Spritzen nach dem Essen einfach vergesse.
Sugar Eves: Wie gehst Du mit Stress um?
Anja: Stress lässt den Blutzucker hochschießen, das ist schwierig. Im Alltag versuche ich, dass meine kleine Tochter rechtzeitig im Bett ist, damit ich noch ein paar Stunden Zeit für mich habe. Ich mache zurzeit keinen aktiven Sport mehr, aber ich lebe auf einem Hof mit Landwirtschaft, da bin ich sehr viel draußen an der frischen Luft und bewege mich. Früher war der Spaziergang mit dem Hund immer meine Auszeit. Das fehlt mir momentan. Ich arbeite auch sehr gerne, auch das ist für mich ein Ausgleich zu meinem Alltag. Am meisten genieße ich momentan das Muttersein. Das hat höchste Priorität. Alles hat seine Zeit. Und es kommt auch wieder eine Zeit für mehr Sport, da weiß ich.
Sugar Eves: Hast Du Dich in Deiner Schwangerschaft anders verhalten als vorher?
Anja: In der Schwangerschaft fühlt man sich plötzlich nicht nur für sich, sondern auch für das Kind verantwortlich. In der Zeit habe ich meine Werte akribisch beobachtet und geschaut, dass ich immer im grünen Bereich war. Meine Langzeitwerte lagen in der Schwangerschaft im Normbereich für gesunde Frauen.
Sugar Eves: Du wurdes jahrelang von einem ausgebildeten Diabetikerwarnhund begleitet.
Anja: Ja, ich hatte meinen Diabetes-Hund Candy elf Jahre lang. Sie ist leider im vergangenen Mai gestorben. Das ist ein sehr großer Verlust, wir hatten eine sehr enge Bindung. Unter Anleitung einer Diabetologin habe ich sie selber ausgebildet. Candy ist 2012 zu mir gekommen. Zu der Zeit waren die CGM-Sensoren noch keine Kassenleistung. Die Ärztin hat die Ausbildung mit Hilfe von Sensoren umgesetzt. Ich war total begeistert, dass der Hund darüber lernt, einen Unterzucker beim Diabetiker aufzuspüren. Candy war so konditioniert, dass sie mir einen Wert von ungefähr unter 80 mg/dl signalisiert hat, mein Messgerät aus der Tasche geholt und mir gebracht hat. Es ist wichtig, dass der Hund eine hohe Trefferquote hat. Aber trotz des Hundes habe ich die Verantwortung für meine Blutzuckerwerte immer bei mir gesehen. Ich habe mir den Hund nicht als Rettungshund angeschafft. Deshalb sehe ich die Anschaffung eines Diabetikerwarnhundes mit gemischten Gefühlen – gerade bei erkrankten Kindern. Ihnen wird schnell vermittelt, dass sie ohne Hund nicht zurechtkommen, dass das für sie lebensbedrohlich sei. Es entsteht für Eltern und Kinder eine große Abhängigkeit. Das Ziel muss aber letztlich die Eigenverantwortung im Umgang mit der Erkrankung sein. Was passiert beispielweise, wenn der Hund plötzlich stirbt? Man sollte sich die Anschaffung eines Diabetiker-Hundes sehr gut überlegen.
Sugar Eves: Manche Frauen empfinden ihre Diabetes-Erkrankung mit Insulinpumpe und Sensor als körperlichen Makel. Wie geht es Dir damit?
Anja: Man kann eine Insulinpumpe heute so gut verstauen. Es gibt dafür sogar spezielle Unterwäsche für Frauen. Ich erlebe, dass die meisten sehr selbstbewusst damit umgehen, aber das hängt auch vom Umfeld ab. Es gibt natürlich immer Gründe für Mobbing, das ist ja eher ein gesellschaftliches Problem. Man sieht aber auch immer mehr Menschen, die ganz offen mit Pumpe oder Sensor am Körper herumlaufen – auch in der Öffentlichkeit, wie beispielsweise die Tochter von Kate Moss oder eine Teilnehmerin bei den Ninja Warriors. Das sind genau die Bilder, die in den sozialen Netzwerken viel Zuspruch finden. Es ist gut, dass es heute Vorbilder in der Öffentlichkeit gibt und die Gesellschaft diverser wird.
Sugar Eves: Was würdest Du anderen Frauen mit auf den Weg geben, die eine Typ-1-Diabetes-Diagnose erhalten?
Anja: Man muss sich erstmal Zeit nehmen, um die Diagnose zu verarbeiten. Verzweiflung, Trauer, Wut – das darf alles sein und gehört dazu. Und trotzdem muss man sich dann natürlich um seine Erkrankung kümmern. Es bringt nichts dagegen zu rebellieren und sich zu ärgern. Da hat man keine Chance. Den Kampf kann man nicht gewinnen. Der Diabetes wird uns unser ganzes Leben lang begleiten. Das muss man annehmen, sonst verschwendet man viel Kraft und Energie. Es ist aber auch wichtig, seine Familie und sein Umfeld aufzuklären, dass man auch Hilfe einfordert, wenn man das Gefühl hat, man schafft es gerade nicht alleine. Auch ganz praktische Dinge gehören dazu: Dass jeder weiß, wo Traubenzucker oder Süßigkeiten hinterlegt sind und keiner da einfach rangeht.
Ich habe viel mit geistig und körperlich behinderten Menschen gearbeitet und gesehen, wie viel Lebensfreude sie haben. Es gibt andere Menschen mit chronischen Erkrankungen, die gar keinen Einfluss auf ihren Krankheitsverlauf haben. Ich bin dankbar dafür, dass ich „nur“ Diabetes habe. Natürlich wäre es schöner, wenn ich gesund wäre, aber ich habe bei dieser Erkrankung die Möglichkeit Einfluss zu nehmen und mit der Krankheit ein tolles Leben zu führen.
Weitere Infos über Anja findet Ihr hier: www.anja-renfordt.de
Das Interview führte Tanja Reiners, reiners kommunikation, Stuttgart
Bildcredit: Fotografin: Juliane Werner, Bildrechte: Anja Renfordt