„Alles ist machbar?“

Von Herausforderungen, Ängsten und dem Wunsch alles richtig machen zu wollen. Die Diagnose Typ-1-Diabetes bei meiner 7-jährigen Tochter hat das Leben der ganzen Familie von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt.

Im September 2019, kurz nach ihrem 7. Geburtstag, hat meine Tochter ihre Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten – und damit wurde ihr Leben und das unserer ganzen Familie von jetzt auf gleich komplett verändert.

Das ganze Ausmaß der Konsequenzen war uns während unseres initialen Krankenhausaufenthalts damals noch nicht klar. Rückblickend muss ich sagen: zum Glück. So konnten wir uns alle schrittweise in die Situation ein- und mit neuen Herausforderungen abfinden. Denn Typ-1-Diabetes ist zwar heutzutage gut behandel- and managebar, aber er bleibt trotz allem eine große lebenslange Aufgabe: in erster Linie für die Betroffenen selbst, aber auch für Eltern oder Partner:innen, Geschwister, Freund:innen und Lehrer:innen. Denn Typ-1-Diabetes hat man nicht alleine: die Diagnose betrifft eigentlich das gesamte Umfeld, in unterschiedlichem Ausmaß natürlich.

Angefangen hatte es bei meiner Tochter ziemlich typisch mit viel Durst und entsprechend häufigen Toilettengängen. Erst waren wir fast froh, dass der Trinkmuffel der Familie im warmen Sommer endlich nicht mehr ständig zur Flüssigkeitsaufnahme gedrängt werden musste. Und dass man dann häufiger auf die Toilette geht, schien uns nur logisch. Aber dann kam gelegentliches Erbrechen dazu, das sich nicht wie ein Infekt anfühlte, und das Trinken nahm absurde Ausmaße an. Da dachten wir uns zum ersten Mal: hoffentlich ist das kein Diabetes.

Die Urinteststreifen aus der Apotheke bestätigten leider unseren Verdacht und als wir daraufhin dringend ärztlichen Rat suchten, konnte der Kinderarzt den Blutzucker meiner Tochter schon gar nicht mehr messen. Auf direktem Weg wurden wir ins Kinderkrankenhaus eingewiesen, wo wir in 2½ Wochen stationärem Aufenthalt intensiv geschult wurden. Bei Entlassung war meine Tochter mit einer Pumpe ausgestattet, wir mit Unmengen theoretischem Wissen und dem Glauben, dass das alles gut machbar ist.

Fast 3½ Jahre später weiß ich: ja, das Handling der Krankheit ist machbar – aber wie gut es machbar ist, hängt an sehr vielen Faktoren. Zum einen medizinisch betrachtet: der Blutzucker hängt an unfassbar vielen Einflüssen, die für uns – auch mit mittlerweile viel Praxiswissen – nicht immer kalkulierbar sind. So wird der Blutzucker neben der Menge der aufgenommenen Kohlenhydrate sowie dem abgegebenen Insulin auch bestimmt von Tageszeit, Stimmungslage, Stress, Aktivitätslevel (auch am Vortag), der Höhe, auf der man sich befindet, hormonellen Schwankungen oder schlummernden Infekten, die die Insulinsensitivität maßgeblich beeinflussen. Hinzu kommen technische Hick-Ups wie beispielsweise blockierte Katheterschläuche, schlechte Setzstellen oder zu warm gewordenes Insulin. Soweit die medizinisch-technische Seite der Machbarkeit.

Mindestens genauso maßgeblich ist aber auch die Betrachtung menschlich-emotionaler Aspekte, wenn es darum geht, wie gut oder nicht gut das Krankheitshandling gelingt. Als chronisch Kranker durchläuft man nach der Diagnose einen Akzeptanzprozess, für den es typische Phasen gibt. Aber auch nach diesem Prozess der Auseinandersetzung mit der Realität verläuft die Annahme der Krankheit nicht als Gerade auf konstant stabilem Niveau. Vielmehr ist das individuelle Akzeptanzlevel immer wieder von Durchhängern unterbrochen, in denen das alles hauptsächlich nervt. Das gilt nicht nur für Erkrankte selbst, sondern auch die Krankheitsmanager in Form der Eltern oder für anderweitig von den Auswirkungen der Krankheit betroffene Personen.

Dass die medizinisch-technischen Einflussfaktoren des Diabetes für mich nicht komplett kontrollier- und verstehbar sind, damit habe ich mich weitestgehend abgefunden. Dachte ich anfangs noch, dass man irgendwann nach einem festen Schema gut eingestellt ist, weiß ich mittlerweile: so läuft das bei Diabetes nicht. Kein Tag gleicht dem anderen, auch wenn scheinbar alle Parameter identisch sind. Das kann ich nicht ändern, also habe ich gelernt es zu akzeptieren. Was ich jedoch beeinflussen kann, ist mein Umgang mit der Krankheit meiner Tochter und meiner Rolle.

Es liegt komplett in meiner eigenen Hand, ob ich die Dinge positiv angehe oder mich frustriert und vom Diabetes bestimmt fühle. Leider schaffe ich es trotzdem nicht immer, hier meinen Ansprüchen an mich selbst gerecht zu werden. Das macht mich doppelt unzufrieden, weil ich dann auch noch befürchte, ein schlechtes role model für meine Tochter zu sein.

Aber was bedeutet es denn eigentlich, in Bezug auf eine chronische Krankheiten ein gutes Vorbild zu sein? Muss man immer dankbar sein, dass das Schicksal einem keine schlimmere Krankheit zugedacht hat? Sollte man nicht froh sein über all den medizinischen Fortschritt und die umfangreiche Forschung, gerade bei Diabetes? Ist man vermessen, wenn man sich manchmal einfach ein ganz normales Leben wünscht? Jein. Ich weiß sehr wohl, dass es viele Eltern gibt, deren Kinder schlimmere Schicksale haben und ich freue mich außerordentlich über die immer schlaueren Algorithmen von Pumpen beispielsweise, die uns das Leben zunehmend erleichtern. Trotzdem bleibt es eine große Aufgabe, dem Kind zu erklären, warum es im Moment bei keiner Freundin übernachten kann. Bei jeder Ferienbetreuung alle Betreuenden zu informieren und einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen. Die regelmäßigen Termine in der medizinischen Praxis wahrzunehmen und das Verbrauchsmaterial zu managen. Die vielen nicht durchschlafenen Nächte und die große Verantwortung, die man bei manchen Therapieentscheidungen trägt. Die Angst vor möglichen Spätfolgen, die man vor dem Kind aber möglichst wenig dramatisiert. Die Familiensituation mit einem gesunden Kind, das weder bevorzugt noch benachteiligt werden darf. Die eigene Belastung nicht gelegentlich über die des erkrankten Kindes zu stellen. Das Ziel, immer alles richtig machen zu wollen und doch mal danebenzuliegen.

Als berufstätige Mutter kann ich mit großen Aufgaben umgehen. Ich wachse an den Herausforderungen und immer mal wieder über mich hinaus. Aber manchmal scheitere ich auch und muss lernen, diese Unzulänglichkeit als normal und Teil jeden Weges im Leben zu akzeptieren. Dann bin ich wahrscheinlich das gesündeste Vorbild für meine Tochter.

© 2023 Sugar Eves